Christine Rühmann

BT 276
Ein Haus mit einer langen Geschichte wurde verlassen und steht nun leer. Über ein Jahrhundert fanden in den Räumen Alltäglichkeit und Dramen vieler Leben statt. Die Zeiten und die Moden veränderten sich ebenso, wie Sprachgebräuche und Umgangsformen. Alles Individuelle, Prägende wurde entfernt. Die nackten Wände und Böden zeigen unverstellt die Spuren des jahrzehntelangen Gebrauchs vielfach wechselnder privater, hermetischer Welten.
Die Bewohner des Hauses sind Vergangenheit und Geschichte des Gebäudes geworden.So leer und undefiniert wie sich ihr die Räume präsentieren, so offen und unvoreingenommen beginnt Christine Rühmann ihren Prozess der Erkundung. Vorgehensweise, Themen, Strategien entwickeln sich im Verlauf ihres mehrtägigen, ununterbrochenen Aufenthalts zwischen nackten Wänden und Böden. Ihr Arbeitsmaterial umfasst Kreide- und Kohlestifte, eine Kamera und eine Schlafunterlage. Christine Rühmann ist Photographin und Tänzerin. Ihre geschulten Sensorien ertasten schrittweise die fremde Umgebung. Unterschiedliche Lichtsituationen erzeugen eine Vielfalt von Befindlichkeiten, auf die ihre konzentrierte Wahrnehmung reagiert.

Die Schlafstelle wird zum Rückzugsrefugium, die Wände zum Tagebuch. Texte in den Räumen und über sie, Beobachtungen und Gedanken werden festgehalten, immer wieder überschrieben und schließlich verwischt oder übermalt.
Die Photostrecken, die entstehen, weisen der Schlafmatte eine zentrale Position zu. Als einziger Körper und Bezugspunkt im Raum, übernimmt das falt- und formbare Objekt die Funktion eines Ausdrucksträgers. Über die Anordnungen und Oberflächenstrukturen vermitteln sich die emotionalen Motive der Künstlerin und verhelfen ihnen zu Ausdruck. Mit  ihren minimalistischen Arrangements des persönlichsten aller Gebrauchsobjekte, der eigenen Schlafstelle, übermittelt Christine Rühmann Zustandsbeschreibungen, die in ihrer schließlich systematisierten Formsprache über die tatsächliche Situation hinausweisen. Die entstandenen Bilder generieren zu hochsensiblen Synonymen des menschlichen Empfindungsspektrums.
Regina Schultz-Möller, galerie moeller